Pubertät als Chance
Oktober 29, 2021

Die Pubertät wird oft als eine unangenehme Zeit gesehen, in der Kinder schwierig sind und unüberlegt reagieren.

All diese Verhaltensweisen sind den körperlichen und geistigen Veränderungen geschuldet, denen die Teenager unterworfen sind.

Was dabei aber oft übersehen wird:

Pubertät als Chance

Die Pubertät ist eine gewaltige Chance!

Pubertät als Chance zum Nachholen von Lernerfahrungen

Genau deshalb, weil das Gehirn komplett umgebaut wird, bietet diese Zeit auch die Chance versäumtes nachzuholen und Neues zu erlernen.

Jetzt, wo das Gehirn ohnehin mit Aussiebe-Prozessen beschäftigt ist, wird auch das sogenannte Entlernen leichter. Unter Entlernen versteht man das Ablegen von Gewohnheiten und Verhaltensweisen, die sich als nicht zielführend erwiesen haben, oder die einfach falsch sind.

In den Jahren vor der Pubertät wächst die sogenannte graue Substanz des Gehirns massiv an, weil immer neue Kontaktstellen  – die sogenannten Synapsen – entstehen. Die graue Substanz liegt in der Großhirnrinde und ist vollgepackt mit Nervenzellen. In der Pubertät ist die graue Substanz so groß wie nie zuvor.

Dann setzt ein Prozess ein, den man mit dem Zurückschneiden von Rosenbüschen vergleichen kann. Wenig verwendete Synapsen werden abgebaut, oft verwendetet werden verstärkt und zahllose neue werden gebildet.

Gleichzeitig wächst die weiße Substanz des Gehirns, die unter der grauen liegt. In ihr befinden sich die Axone – die Fortsätze der Nervenzellen, die Signale extrem schnell weiterleiten können.

Indem die Synapsen reduziert werden und die Axone mehr werden, steigt die Leistungsfähigkeit des Gehirns. Die Kommunikation zwischen den Nervenzellen läuft schneller ab.

Dieser Umbau beginnt zunächst in den hinteren Hirnarelalen. Sie sind für die urtümlichen Funktionen wie Sehsinn und Gehör zuständig. Die hormonelle Umstellung, die mit der körperlichen Umstellung und dem Gehirnumbau einhergeht, ist verantwortlich, dass die Teenager die Nacht zum Tag machen.

Jetzt entscheidet sich welche Fähigkeiten langfristig ausgebaut werden. Das sind genau die Hirnareale für jene Tätigkeiten, die die Jugendlichen regelmäßig nutzen.
Alles, womit sich dein Kind jetzt beschäftigt, wird langfristig gestärkt. Egal, ob es sich um Musik, Sport, Gedächtnisleistung oder Bewegungsabläufe handelt.
Daher können in dieser Zeit auch gut versäumte Entwicklungsprozesse „nachgenährt“ werden.

Jetzt ist es z. B. möglich das Gleichgewicht noch einmal gut zu schulen, falls das im Kleinkindalter nicht geglückt ist. Jetzt ist es möglich künstlerische Fähigkeiten zu erwerben und zu fördern, falls das im Schulalter zu kurz gekommen ist.

Nie wieder ist das Gehirn so leistungsfähig wie zu dieser Zeit!
Ja, wir wissen mittlerweile, das Gehirn formt sich ein Leben lang um. Aber in der Pubertät ist alles auf diese Umformung ausgerichtet. Das heißt jetzt kann der natürliche Prozess genutzt werden, um Fähigkeiten zu stärken oder auszubauen.

Damit das gelingt ist aber eines ganz wichtig. Die beständige Beschäftigung mit diesen Fähigkeiten. Denn wie schon oben erwähnt: Ungenutztes wird ausgeschieden.

Pubertät als Chance, die Welt zu verändern

Allerdings bietet die Pubertät noch eine andere große Chance, die sowohl Eltern als auch anderen Erwachsenen in der Umgebung der Pubertierenden nicht bewusst ist.

Wenn sie Pubertät hören, dann denken viele Eltern oft an Aufmüpfigkeit und Fehlentscheidungen. Aber Teenager haben auch das Potenzial zu Glanzleistungen. Zu diesen kommt es allerdings nur, wenn du deinem Teenager verständnisvoll begegnest und ihm auch etwas zutraust.

Pubertierende sind originell, kreativ und oft sehr idealistisch. Sie sind gerade auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und sind bereit ihre Werte viel kompromissloser durchzusetzen. Sie lieben es zu diskutieren und debattieren. Damit sind sie geradezu ideal passend, um neue Lösungen für politische, wirtschaftliche oder ökonomische Probleme zu finden.

Der Neurobiologe Ralph Dawirs vom Universitätsklinikum Erlangen forscht über die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Er meint dazu: Bereits vor zwei Millionen Jahren wären Pubertierende die wahren Helden gewesen. Denn mit dem Einsetzen der Pubertät waren sie bereit sich in Gefahr zu begeben und Neues auszuprobieren. Innovation und Fortschritt wäre ohne anders denkende Jugendliche nicht möglich gewesen.

Heute würden diese Erfolgsmerkmale wie erhöhte Risikobereitschaft und Idealismus „kriminalisiert und pathologisiert“ meint Dawirs.

Zusätzlich hat sich in den letzten Jahrzehnten ein „Jugendkult“ entwickelt. 60-jährige sind heute fitter und aktiver als 50-jährige zur Zeit meiner Großmutter oder Urgroßmutter. Das ist einerseits schön so! Denn die Menschen werden gesund älter. Andererseits nimmt es den Jugendlichen aber ihre „Vormachtstellung“ weg. Das Abgrenzen wird immer schwieriger.

Es gibt keinen echten Generationswechsel mehr. Dawirs nennt das den „Prinz-Charles-Effekt“. Die junge Generation will mitmachen und darf aber nicht, weil ältere nicht ihren Platz räumen.

So schlimm ist es meiner Meinung nach nicht.

Aber an dem Gedanken ist etwas dran. Stehen doch im Jahr 2021  – allein in Österreich – den 15 – 19-jährigen mehr als 5 Mal so viele Menschen 60+ gegenüber.  Was für eine Übermacht!

(Wenn du einen Überblick in  Zahlen möchtest, dann sind es 435249 Jugendliche im Alter von 15 – 19 Jahren und 2.0.517 Menschen 60+. Zahlen von Statistik Austria.)

Bedenkt man dann noch, dass Jugendliche erst ab 16 Jahren wählen dürfen, dann sieht man gleich, wie sehr sie in ihrem Drang zur Veränderung beschränkt sind. Tatsächlich bestimmen Menschen die Geschicke unseres Landes, die mit den langfristigen Folgen nicht mehr leben müssen. Das macht Jugendliche oft wütend.
Dieser ohnehin bestehende Konflikt wurde während der letzten beiden Jahre noch angeheizt.

Gerade weil die Zahl der alten Menschen immer mehr zunimmt können wir es uns gar nicht leisten, die Jungen zu übergehen. Sie wollen Verantwortung übernehmen!

Aus meinem persönlichen Alltag kann ich dir versichern, dass Jugendliche sehr verantwortungsvoll sein können, wenn ihnen die Eltern etwas zutrauen. Klar, sie müssen hineinwachsen und brauchen anfangs noch ein Sicherheitsnetz. Aber wenn wir alle diese jungen Menschen ernst nehmen und ihnen zugestehen unsere Gesellschaft mitzugestalten, dann ist das aus meiner Sicht nur fair. Schließlich müssen sie viel länger mit den Folgen der Entscheidungen leben, die jetzt getroffen werden.

Die Jugendlichen wollen etwas verändern. Das kann man auch gut daran erkennen, wie sie sich bei Maßnahmen für die Allgemeinheit einsetzen. Sie gehen dabei sehr idealistisch vor und setzen sich vorbehaltslos für das Allgemeinwohl ein.

Pubertät als Chance die Welt zu verändern

Es beginnt im Kleinen

Ich erzähle dir jetzt eine Geschichte auf deren Anfang ich nicht besonders stolz bin. Allerdings konnte ich – mithilfe meiner Söhne – rechtzeitig einen Haken schlagen.

Vor einigen Jahren hatte ich mit meinen Söhnen eine Grundsatzdiskussion. Es ging darum, wieviel Platz sie in den allgemein zugänglichen Räumen wie Wohnzimmer, Küche, Vorzimmer etc. brauchen und wie ihr Bild von Ordnung dort ist. Dabei ist mir der Satz herausgerutscht: „Es ist mein Haus.“

Das ist der Teil für den ich mich aus heutiger Sicht schäme. Rein rechtlich stimmt dieser Satz. Aber ideell?

Die Antwort meines jüngeren Sohnes kam prompt: „Es ist auch unser Haus, wir leben auch hier.“

Das saß! So hatte ich es doch gar nicht gemeint. Ich wollte meinen Söhnen doch nicht das Wohnrecht absprechen. Klar ist es unser Haus. Ideell haben mein Mann und die Kinder das gleiche Recht in diesem Haus zu wohnen. Es ist auch ihr Zuhause und damit auch ihr Haus. Basta!

Was wollte ich also mit dem Satz bewirken?

Ich wollte meine Ordnungsstandards durchsetzen und meiner Forderung Gewicht verleihen.

Ich begann nachzudenken. Hätte ich je zu meinem Mann einen derartigen Satz gesagt, weil sich sein Sinn für Ordnung von meinem unterscheidet?

Ich kann aus vollem Herzen sagen: „Nein, das hätte ich niemals getan!“

Warum sagte ich also einen derartigen Satz zu meinen Kindern?

Es geht hier gar nicht darum, ob ich mit meinem Platz- und Ordnungsgefühl Recht hatte. Es geht vielmehr darum, wie und mit welcher Vehemenz ich meinen Standpunkt vertrat.

Ich habe in diesem Moment ein Machtgefälle hergestellt, gegen das sich unsere Söhne – Gott sei Dank – aufgelehnt haben. Auch sie kannten mich so nicht.

Selbst wenn ein Gast mit seinen Schuhen permanent an meiner frisch gestrichenen Wand streifen würde, wäre mein Ton ein anderer. Auch hier wäre mein Einwand berechtigt. Allerdings würde ich wahrscheinlich etwas sagen wie: „Die Wände sind frisch gestrichen. Sei so nett und achte darauf, dass du nicht mit den Schuhsohlen daran streifst. Danke!“

Ich achte seit diesem Gespräch noch mehr auf meine Sprache. Somit war für mich die Pubertät meiner Söhne eine Chance. Eine Chance, noch besser auch meine Sprache zu achten und noch achtsamer mit meinen Lieben umzugehen.

Was ich dir mit diesem Beispiel aber zeigen möchte:

Wir sind oft gedankenlos und schließen die jungen Menschen aus. Das machen wir nicht absichtlich. Meistens kommen da ganz alte, tradierte Meinungen durch. Oft entsprechen sie gar nicht unseren eigentlichen Idealen und Werten.

Solange wir aber nicht reflektiert handeln und kommunizieren, kann es sein, dass wir zwar denken, wir beziehen die Jugend mit ein und wir trauen ihr etwas zu.

Unsere Sprache und unser Handeln sagt aber etwas Anderes.

Teenager fühlen sich oft wahnsinnig erwachsen. Aus Elternsicht sind sie oft noch Kinder. In Wahrheit ist die Pubertät eine Art Zwischenwelt. Diese Zeit ist für Kinder und Eltern gleichermaßen schwierig.

Oft ist es so, dass Erwachsene sich bei 11-jährigen voll entwickelten Mädchen täuschen lassen und zu viel erwarten. Zu viel an geistiger Reife.

Bei den 16 – 19-jährigen ist es dann oft umgekehrt. Sie sind schon (fast) erwachsen und sehr reif. Dennoch werden sie von Eltern noch klein gehalten.

Der US-Verhaltensforscher Robert Epstein plädiert dafür die Kompetenzen jedes Jugendlichen zu prüfen und ihm dann Rechte zur Gestaltung an der Gesellschaft zu übertragen. So wie z. B. kontrolliert wird, ob jemand einen Führerschein erhält, oder eine berufliche Befähigung nachweisen kann.

Er hat einen Test entwickelt mit dem Titel „Wie erwachsen bist du?“. Dieser ist im Internet veröffentlicht. Jugendliche können anhand von 140 Fragen herausfinden, wie reif sie sind.

Epstein fordert, dass Jugendliche, die eine erforderliche Anzahl von Punkten erreichen, alle Rechte haben die Erwachsene auch haben: Wählen, Verträge unterzeichnen, allein wohnen, Unternehmen gründen.

Das ist eine sehr radikale Idee.

Auch wenn sie nicht verwirklicht wird, können Familien dafür sorgen, dass mehr Demokratie und Mitbestimmung gelebt wird.

Aus meiner Sicht war die Pubertät eine der spannendsten Entwicklungszeiten meiner Söhne. Wir haben diskutiert, gekämpft, gekabbelt, gelacht, gespielt wie nie zuvor.

Versuche also offen und neugierig zu sein, was die Pubertät deiner Kinder für dich bereithält.

Bleib gesund und gelassen!

Deine Mütterversteherin

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